Bloß nicht dran denken!
Einen ruhmreichen Krieger
erkennt man an seinen Narben – Bücher auch. Es sind die speckigen Exemplare,
mit den zerfledderten Seiten, den Kaffeeflecken und den geschmolzenen
Schokokrümeln zwischen den Seiten, die wir besonders ins Herz gefasst haben.
Immerhin werden sie immer wieder aus dem Regal genommen und von Neuem gelesen.
Das muss nicht immer wieder von Anfang an sein – meine Lieblingsstellen kann
man schwerelos an den heraus fallenden Seiten erkennen.
Höhere Mächte zwingen mich seit einem Monat dazu, noch mehr Zeit als sonst mit Büchern der besonders schönen Kategorie akademischer Sachbücher zu beschäftigen. Ich habe mich durch tausenden Ergebnisse des Onlinekatalogs geklickt und Bücherhaufen mit dem Gewichts eines mittelschweren Elefantens von der Bibliothek nach Hause getragen (Anm. d. Red.: Übertreibungen jeglicher Art sind in diesem Blog nicht nur strengstens verboten, sondern werden auch mit äußerster Härte sanktioniert.)
Beim Durchforsten der meterhohen
Sekundärliteratur für mein akademisches Meisterwerk (Anm. d. Red.: Sarkasmus
ist ebenfalls unerwünscht.) habe ich die unterschiedlichsten Kuriositäten
gefunden. Von Einkaufszetteln, kleinen Zeichnungen, bis hin zu Haargummis – es
war alles schon dabei. Doch es sind die alltäglichen Dinge wie lose Seiten und
Unterstreichungen, die mich an den Rande des Wahnsinns treiben. Bei jeder
heraus fallenden Seite setzt Panik ein. Was ist, wenn die nette Dame in der
Bibliothek mich für den Übeltäter hält? Dann muss ich eventuell die Reparatur
oder gar das ganze dämliche Buch bezahlen. Wenn man bedenkt, dass der Preis
einer seltenen Ausgabe eines Werk von 1920 über ein kurioses Thema ohne
Probleme im dreistelligen Bereich liegen kann, lässt sich das Hyperventilieren
im Anfangsstadium meinerseits doch leicht erklären. Auch Unterstreichungen sind
mir ein Dorn im Auge. Dies mache ich in meinen eigenen Büchern auch – denn
schließlich sind das ja meine. Aber Bibliotheksbücher werden von mehreren
Menschen gelesen, von denen jeder einen anderen Fokus setzt. Ich bin leicht
abzulenken und einen Text mit zig Trilliarden Unterstreichungen, Ausrufezeichen
und Kommentaren zu lesen ist für mich genauso schwer, wie nicht an Orangen zu
denken, wenn mir jemand eine im zwei-Sekunden-Takt an den Kopf wirft.
Als ich mich dann aber meiner
Primärliteratur – Goethes Wahlverwandtschaften – zuwandte, musste ich über mich
selber Lachen. Es sei vorausgestellt, dass mich dieses Buch seit zehn Semestern begleitet. Beim ersten
Lesen fand ich ausgesprochen sperrig und verstaute es dann im dunkelsten Winkel
meines Bücherregals. Doch nach einem phänomenalen Seminar, welches mir die
Augen für die unglaubliche Konstruktion und Symmetrie des Romans geöffnet habe,
habe ich mich unsterblich darin verliebt. Auch nach der vierten Seminararbeit
über das Thema, finde ich immer wieder neue Sachen, die mich in ihren Bann
ziehen. Doch genug der liebestollen Schwärmerei.
Ich hatte das Buch lange nicht
mehr in die Hand genommen und als ich es letzte Woche aufschlagen wollte, musste
ich mich durch eine Armada von diesen bunten Markierungspostits kämpfen. Nach
hartem Ringen blätterte ich durch die Seiten und wurde geblendet von gelben,
grünen, pinken, blauen, lilanen und orangenen Textmarkermarierungen. Zu einem
gewissen Zeitpunkt unterlag dieser farbige Exzess einem System, doch leider
ging die Legende irgendwann zwischen der zweiten und dritten Seminararbeit
verloren. Und da der Meister der Verwirrung – die Kommentare – nicht fehlen
durfte habe ich in den letzten Jahren sämtliche kongenialen Geistesergüsse
schriftlich auf den üppig bemessenen Reclamseiten festgehalten. Sogar auf der
Rückseite. Es grenzt an Selbstsabotage und wenn ich nicht so ein sentimentaler
Romantiker wäre, würde ich einfach noch mal 5,60€ für ein neues Exemplar
ausgeben. Doch ich bringe es nicht übers Herz meinen alten Kumpanen jetzt in
den letzten Zügen meines Studiums sitzen zu lassen und so versuche ich
weiterhin nicht an Orangen zu denken.
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