Montag, 7. Mai 2012

Goethe und die Orange


Bloß nicht dran denken!



Einen ruhmreichen Krieger erkennt man an seinen Narben – Bücher auch. Es sind die speckigen Exemplare, mit den zerfledderten Seiten, den Kaffeeflecken und den geschmolzenen Schokokrümeln zwischen den Seiten, die wir besonders ins Herz gefasst haben. Immerhin werden sie immer wieder aus dem Regal genommen und von Neuem gelesen. Das muss nicht immer wieder von Anfang an sein – meine Lieblingsstellen kann man schwerelos an den heraus fallenden Seiten erkennen.
Höhere Mächte zwingen mich seit einem Monat dazu, noch mehr Zeit als sonst mit Büchern der besonders schönen Kategorie akademischer Sachbücher zu beschäftigen. Ich habe mich durch tausenden Ergebnisse des Onlinekatalogs geklickt und Bücherhaufen mit dem Gewichts eines mittelschweren Elefantens von der Bibliothek nach Hause getragen (Anm. d. Red.: Übertreibungen jeglicher Art sind in diesem Blog nicht nur strengstens verboten, sondern werden auch mit äußerster Härte sanktioniert.)

        


Beim Durchforsten der meterhohen Sekundärliteratur für mein akademisches Meisterwerk (Anm. d. Red.: Sarkasmus ist ebenfalls unerwünscht.) habe ich die unterschiedlichsten Kuriositäten gefunden. Von Einkaufszetteln, kleinen Zeichnungen, bis hin zu Haargummis – es war alles schon dabei. Doch es sind die alltäglichen Dinge wie lose Seiten und Unterstreichungen, die mich an den Rande des Wahnsinns treiben. Bei jeder heraus fallenden Seite setzt Panik ein. Was ist, wenn die nette Dame in der Bibliothek mich für den Übeltäter hält? Dann muss ich eventuell die Reparatur oder gar das ganze dämliche Buch bezahlen. Wenn man bedenkt, dass der Preis einer seltenen Ausgabe eines Werk von 1920 über ein kurioses Thema ohne Probleme im dreistelligen Bereich liegen kann, lässt sich das Hyperventilieren im Anfangsstadium meinerseits doch leicht erklären. Auch Unterstreichungen sind mir ein Dorn im Auge. Dies mache ich in meinen eigenen Büchern auch – denn schließlich sind das ja meine. Aber Bibliotheksbücher werden von mehreren Menschen gelesen, von denen jeder einen anderen Fokus setzt. Ich bin leicht abzulenken und einen Text mit zig Trilliarden Unterstreichungen, Ausrufezeichen und Kommentaren zu lesen ist für mich genauso schwer, wie nicht an Orangen zu denken, wenn mir jemand eine im zwei-Sekunden-Takt an den Kopf wirft.

      

Als ich mich dann aber meiner Primärliteratur – Goethes Wahlverwandtschaften – zuwandte, musste ich über mich selber Lachen. Es sei vorausgestellt, dass  mich dieses Buch seit zehn Semestern begleitet. Beim ersten Lesen fand ich ausgesprochen sperrig und verstaute es dann im dunkelsten Winkel meines Bücherregals. Doch nach einem phänomenalen Seminar, welches mir die Augen für die unglaubliche Konstruktion und Symmetrie des Romans geöffnet habe, habe ich mich unsterblich darin verliebt. Auch nach der vierten Seminararbeit über das Thema, finde ich immer wieder neue Sachen, die mich in ihren Bann ziehen. Doch genug der liebestollen Schwärmerei.
Ich hatte das Buch lange nicht mehr in die Hand genommen und als ich es letzte Woche aufschlagen wollte, musste ich mich durch eine Armada von diesen bunten Markierungspostits kämpfen. Nach hartem Ringen blätterte ich durch die Seiten und wurde geblendet von gelben, grünen, pinken, blauen, lilanen und orangenen Textmarkermarierungen. Zu einem gewissen Zeitpunkt unterlag dieser farbige Exzess einem System, doch leider ging die Legende irgendwann zwischen der zweiten und dritten Seminararbeit verloren. Und da der Meister der Verwirrung – die Kommentare – nicht fehlen durfte habe ich in den letzten Jahren sämtliche kongenialen Geistesergüsse schriftlich auf den üppig bemessenen Reclamseiten festgehalten. Sogar auf der Rückseite. Es grenzt an Selbstsabotage und wenn ich nicht so ein sentimentaler Romantiker wäre, würde ich einfach noch mal 5,60€ für ein neues Exemplar ausgeben. Doch ich bringe es nicht übers Herz meinen alten Kumpanen jetzt in den letzten Zügen meines Studiums sitzen zu lassen und so versuche ich weiterhin nicht an Orangen zu denken. 



    

by Miss P.

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